Im Ameisenstaat

Dieser Eintrag liegt mir schon länger auf dem Herzen. Es geht um etwas, das sich an keinem konkreten Ereignis festmachen lässt. Es geht hier mehr um die Summe von Kleinigkeiten, ein unbestimmtes Bauchgefühl, das sich hier unten nach längerem Aufenthalt einstellt und langsam zur Gewissheit wird. Und auch wenn ich hier schon etliche Chinesen kennengelernt habe, die nicht ins folgende Schema passen und bei denen ich mich hier im Voraus für meine Verallgemeinerungen entschuldigen möchte, so bestätigen sie letztlich doch nur als sprichwörtliche Ausnahmen die Regel: China, der Ameisenstaat.

Unendliche SeelenruheDas fängt bei trivialen Dingen an. Dozenten an chinesischen Unis beispielsweise können ungeniert beliebig schlechte Vorlesungen halten: Ihre Studenten werden keine Kritik üben. „Ist halt so“, „Lerne ich eben zuhause nochmal“, „Kann ich auch nicht ändern“ bekommt man zu hören, wenn man fragt, wieso sich keiner über die Vorlesung beschwert. Nur nicht den Mund aufmachen, nur keinen „Vorgesetzten“ kritisieren. Praktizierter Buddhismus wohin das Auge blickt. Sämtlicher Ärger wird einfach still in sich hineingefressen. Nur im Auto kann jeder nach Lust und Laune seine angestaute Wut in Form von Hupe und Lichthupe auf den Vordermann loslassen.

Hat man etwas zu besprechen, sollte man sich niemals darauf verlassen, dass das eifrige Bejahen, breite Grinsen und eifrige Kopfnicken des Gegenübers, auch nur ansatzweises Verständnis des Gesagten bedeutet. Er könnte auch einfach nur darauf bedacht sein, sein Gesicht nicht dadurch zu verlieren, durch eine Nachfrage zu erkennen zu geben, dass er etwas, vielleicht auch nur aufgrund des Englischen, nicht verstanden hat. Und je heftiger er zustimmt, desto größer ist diese Gefahr. Ich bin mittlerweile jedesmal hoch erfreut jemanden zu treffen, der sofort nachfragt, wenn etwas unklar ist.

Auch mitten in der Nacht stehen noch die Betonmischer SchlangeGearbeitet wird hier auch wie bei den Ameisen. Unermüdlich sitzen viele der Studenten noch spät abends in der Bibliothek und lernen – bis der Sicherheitsdienst um zehn den Laden dicht macht. Vorlesungen teilweise bis abends um neun, bei uns schwer vorstellbar. Wochenende? Feierabend? Nicht auf den Baustellen, nicht im Supermarkt. Die letzte U-Bahn geht um kurz nach zehn. Kurz vor zwölf verlöschen überall die Lichter, das Funkeln der Hochhäuser und mit ihnen der Zauber der Nacht, der kurze Moment, in dem Shanghai nicht grau, sondern in strahlend bunten Farben leuchtet. Shanghai – die Stadt, die pünktlich schläft. Damit auch wirklich jeder morgens fit und energiegeladen wieder auf der Matte steht.

Chinesische Party - Warmes Wasser statt AlkoholHier wird nicht gearbeitet, um zu leben, sondern gelebt, um zu arbeiten. Die Karriere ist für die meisten Studenten am Campus das mit Abstand Wichtigste in ihrem Leben. Freizeitgestaltung und Zwischenmenschliches spielen eine minimale Nebenrolle. Vielleicht mal etwas Sport. Abends ein Bier mit Freunden in der Kneipe? Nein, das ginge schon wieder zu weit. Bars gibts hier im Umkreis von etlichen Kilometern sowieso keine. Parties, so wie man sie aus Deutschland kennt? Fehlanzeige! Zu besonderen Anlässen geht man vielleicht mal etwas besser abends Essen, schnuppert versehentlich vielleicht sogar etwas Alkohol. Was würde der Prof. nur von einem denken, wenn er mich abends mit einer Flasche Bier in der Hand sehen würde?? Ängste, die der durchschnittsdeutsche Student nur unter maximalem Einsatz sämtlicher Vorstellungskraft nachvollziehen kann, hier unten aber ernsthafte Gewissensbisse hervorrufen.

Spaß, Freizeit, Beziehung, Liebe, oder gar Sex,… das kann hier alles warten, bis man alt und reich ist. Falls dann doch mal geflirtet wird, geschieht auch das mit buddhistischem Übereifer. Händchenhalten ist schon eine sehr große Sache. Bis es mal soweit kommt, muss man sich aber schon seit Ewigkeiten von irgendwoher kennen und hundertmal zusammen mit gemeinsamen Freunden etwas moralisch höchst unbedenkliches wie Gesellschaftsspiele unternommen haben. Auch müssen zwei Personen, die sich seit Jahren ein Pärchen nennen, noch nicht zwangsläufig miteinander geschlafen haben und so ist es keineswegs überraschend, dass die meisten Studenten hier auf dem Campus auch mit 22 oder 23 noch Jungfrauen sind. Viele scheinen sich daran nicht einmal zu stören. Brave Mädchen bekommen von ihren Eltern schließlich schon seit sie laufen können eingetrichtert: „Mit Jungs rumhängen ist Zeitverschwendung.“ Nur wenn das Töchterlein mit 30 noch nicht verheiratet ist, kommen sie ins grübeln, was wohl schief gelaufen ist.

Auch machen die wenigen Pärchen, die mir über den Weg laufen, selten einen glücklichen Eindruck. Man sieht sie vor den Wohnheimen entlang spazieren. Sie, genervt, gelangweilt, stur geradeaus blickend. Er, seinen Arm krampfhaft um sie schlingend, ihr komplett zugewandt, gestikulierend, auf sie einredend, klammernd. Um Zuneigung bettelnd. An seiner ersten und einzigen kostbaren Eroberung klebend. Sie, gesellschaftlich auf ewige Treue und Ähnliches getrimmt, aktiv bemüht mit der Situation glücklich zu sein, während nicht einmal sie selbst weiß, woran die Beziehung wirklich krankt, warum sie ständig an ihm herumnörgelt, wegen Kleinigkeiten einen Streit vom Zaun bricht, unglücklich ist. Sie realisiert nicht, dass sie an seiner Anbiederung erstickt, dass sie zwangsläufig jeglichen Respekt für ihn verloren hat. Und dennoch denkt sie vielleicht nicht einmal daran, sich von ihm zu trennen. Weiterhin sucht sie die Schuld bei sich und frisst ihre Unzufriedenheit in sich hinein.

Geradezu zünisch wirkt hier der Kontrast zu den glücklichen jungen Familien, die die chinesische Werbeindustrie täglich in Bussen und U-Bahnen präsentiert, in denen sich gleichsam Prinz und Prinzessin gefunden haben. In denen er mit einem simplen Bonbon helle Freude in ihr Gesicht zaubert und ihr einziger Sohn dazu begeistert klatscht.

PfffffffffffffftUnd dann gibt es da doch die lobenswerten Ausnahmen wie Gu Shuang, Feng Yenchun, Arni, Jin Wen Ting,… Denen aufgefallen ist, dass Karriere alleine auch nicht glücklich macht. Die sich selbst und die Traditionen des Landes unvoreingenommen beurteilen und einschätzen. Die sich nicht mit dem Einheitstrott zufrieden geben. Und die ihrer Zeit hier unten ein gutes Stück voraus sind! Vielen Dank euch für die tiefgründigen Gespräche! Dank euch und den restlichen Europäern hier unten ist der Aufenthalt wesentlich angenehmer, als vielleicht der Eindruck vermittelt, der durch meine Schilderung enstanden ist. So, das musste mal raus! Und jetzt noch knapp drei Wochen programmieren, dann hat mich die Heimat wieder. Bis dahin werde ich mich weiterhin ganz wie die Ameisen tief in Arbeit begraben.

2 Gedanken zu „Im Ameisenstaat

  1. lass das blos nicht an die chinesische öffentlichkeit treten, sonst lassen die dich da noch ein halbes jahr ned raus 🙂

Kommentare sind geschlossen.